Seit dem Untergang der Sowjetunion und des Staat gewordenen Sozialismus in Europa ist die wichtigste und zugleich quälendste Frage für jeden revolutionären Sozialisten die Frage nach den Ursachen für diese Menschheitskatastrophe. Die wichtigste – weil ohne ihre richtige Beantwortung kein erfolgreicher Neuanfang. Die quälendste – weil ihrer allseitig sachlich abwägenden Beantwortung natürliche, mehr noch aber jahrzehntelang vorsätzlich geschürte und dadurch zu Vor- Urteilen verhärtete Emotionen im Wege stehen, Emotionen, die eine mehr urteilende und weniger verurteilende Position als „Ungeheuerlichkeit“ empfinden lassen.
Soll die kommunistische Bewegung wieder zu einer geschichtsgestaltenden Kraft werden, muß sie ihre innere Zerstrittenheit überwinden. Dazu beizutragen, erhoffe ich mir von der Veröffentlichung dieser Aufzeichnungen. Ich meine, daß die darin festgehaltenen historischen Fakten helfen können, die tiefgehenden Differenzen in der kommunistischen Bewegung über die Ursachen der schwersten und verheerendsten Niederlage der internationalen Arbeiterbewegung zu überwinden. Einige erläuternde Bemerkungen zum Inhalt der Bände Er setzt sich aus recht unterschiedlichen Elementen zusammen. Den durchgehenden, mehrfach jedoch unterbrochenen Hauptteil bildet eine Art politisches Tagebuch, das von 1953 an über Jahrzehnte die verhängnisvolle Entwicklung in der Sowjetunion und in der übrigen sozialistischen Welt registriert und kommentiert.
Verschiedentlich unterbrochen und ergänzt wird dieses Tagebuch von Ausarbeitungen verschiedenster Art zum modernen Revisionismus und von Briefen an Freunde, in denen ich zur Entwicklung in der Sowjetunion und in der übrigen sozialistischen Welt Stellung nahm.
Das politische Tagebuch besteht seinerseits aus zwei Hauptteilen. In Teil I – niedergeschrieben in den Monaten Dezember 1956 bis Januar 1957 – ließ ich an Hand von Zeitungsnotizen noch einmal die Ereignisse vom März 1953 – vom Tode Stalins also – bis Ende 1956 Revue passieren, um einen durch die Ereignisse in Ungarn verstärkten bestimmten Verdacht, die Rolle Chruschtschows betreffend, zu widerlegen oder zu verifizieren. Diese Überprüfung führte – leider – zu dem Ergebnis, daß der Verdacht begründet war – der Verdacht nämlich, daß mit diesem „Reformer“ in Wahrheit ein Antikommunist an die Spitze der Partei Lenins gelangt war – so unwahrscheinlich das auch mir erschien und allzu vielen auch heute noch erscheint, trotz vorliegender Beweise.
Ausgehend von der gewonnenen Gewißheit über die wahre Rolle Chruschtschows, diese aber doch immer neu in Frage stellend und überprüfend, den weiteren Weg der KPdSU und der Länder des Sozialismus, das heißt den jahrelangen erbitterten, aber vorwiegend verdeckten bzw. verfälschten Kampf zwischen den Kräften des modernen Revisionismus und den marxistisch-leninistischen Kräften in den kommunistischen Parteien und in den sozialistischen Ländern, bis zum endlich doch – aber viel zu spät – erreichten Sturz Chruschtschows, dieses Hoffnungsträgers der Regierenden in den Metropolen des Westens.
Die Chronik – jedoch nicht das Tagebuch selbst – schließt mit diesem hoffnungsvoll stimmenden Ereignis des Oktober 1964 ab. Wenn sie dazu beiträgt, in der kommunistischen und der Arbeiterbewegung einer einheitlichen Auffassung über die tatsächlichen Ursachen der keineswegs unausweichlichen, sondern vermeidbaren Niederlage, und darüber näherzukommen, wodurch der keineswegs unmögliche, sondern fast schon sichere, nicht mehr zurückzudrehende Sieg über den Imperialismus in diesem Jahrhundert verhindert wurde, dann hätte dieses Tagebuch, das ursprünglich nur der Selbstverständigung diente, doch noch einen über das Persönliche hinausreichenden gesellschaftlichen Nutzen erzielt und seine Veröffentlichung gerechtfertigt.
Aus den einleitenden Bemerkungen zu Band II
Der vorangehende Band I der Taubenfußchronik schließt mit Eintragungen aus dem Oktober 1957 ab. Der vorliegende Band enthält die Eintragungen vom 27. Oktober 1957 bis zum Sturz Chruschtschows im Oktober 1964, zu den Auswirkungen dieses Sturzes und zum Konflikt mit der Volksrepublik China bis zum Tode von Mao Tse-tung. Aus Eintragungen und Briefen der späteren Jahre wurde eine kleine Auswahl angefügt, die vor allem meine damalige, sehr irrige Sicht auf den sowjetisch-chinesischen Konflikt verdeutlicht.
In einem kommunistischen Elternhaus aufgewachsen, war Gossweiler aktiv im Widerstand gegen die Nazis. 1937-1941 Studium der Volkswirtschaftslehre, unterbrochen durch den Einzug zur deutschen Wehrmacht. 1943 lief er zur Roten Armee über. Dort wurde er Kursant an der Antifa-Schule in Taliza.
Nach seiner Rückkehr 1947 nach Berlin ist er zunächst als Lehrer an der Landesparteischule der SED Berlin tätig, dann von Oktober 1948 bis August 1955 als Mitarbeiter der Berliner Bezirksleitung der SED. Ab 1955 ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität, dort promoviert er 1963 zu „Die Röhm-Affäre“. Mit dem Buch „Großbanken, Industriemonopole, Staat“ habilitiert er sich 1972 zum Dr. sc. Bis zur Emeritierung 1983 ist er am Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR tätig. Ehrendoktor durch die Humboldt-Universität 1988. Neben der Faschismusforschung sind weitere Arbeitsschwerpunkte die Arbeiterbewegung, die Geschichte der Sowjetunion und der Revisionismus.
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Artikelnummer: L978074